Seit November 2020 gibt es von MFK regelmäßig, live aus dem Straßengrün am Rande des Ruhrschnellwegs (A40), spontane Soundscapes zuhören. Aus unserer Recherche zum Westkreuz der Autobahn 40, ihrem Sound und ihrer speziellen Landschaft, entstand die Ortsbegehung & Performance SONIC HIGHWAY. Die Premiere fand am 02. Juli 2021 statt.
Unter Einfluss starken Straßenlärms formulieren wir mit diversen Instrumenten eine dis-harmonische Antwort auf die Landschaft, die uns umgibt. Die Autobahn dröhnt, Vögel zwitschern, Stylophon ist angeschlossen, Sonne scheint kurz, wir musizieren.
Unser Wohnort Bochum liegt inmitten des größten und lautesten Ballungsgebietes Deutschlands - der Metropolregion Ruhrgebiet. Hier verbindet ein dichtes Netz aus Schienen, Straßen und Autobahnen die Städte untereinander. Eine gute Verkehrsanbindung ist garantiert. Über die A40, den sogenannte „Ruhrschnellweg“, der zu den meist befahrenen Autobahnen Deutschlands zählt, strömt täglich eine Verkehrsflut mit über hundert-tausenden Autos.
MFK besitzt kein Auto und hält auch den Trend zum Umstieg auf ein eigenes Elektroauto für keine gute Idee. Wir sind in der Stadt wenn immer möglich zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs. Wer als Fußgänger:in in Bochum unterwegs ist, wird über kurz oder lang auf eine Autobahn stoßen, die für Spazierende zunächst zu einem Hindernis wird. Es geht dann erst einmal nicht weiter. Wie gewaltige Flüsse strömen die Autobahnen unablässig durch das Stadtgebiet und lassen sich nur über Brücken oder durch Tunnel sicher passieren. Auch wenn sie noch nicht zu sehen sind, kann man sie bereits von Weitem hören. Aus Reifen-auf-Fahrbahn-, Motorantriebs- und aerodynamischen- Geräuschen bildet die Autobahn ihre eigene unüberhörbare Soundkulisse. MFK folgt diesem Rauschen bis zur Quelle. Wir finden uns wieder auf kleinen Trampelpfaden im Gebüsch am Rande der Autobahnen, auf schmalen von Lärmschutzwänden und Leitplanken begrenzten Wegen, zwischen schmalblättrigem Greiskraut und wilden Margeriten, auf aufgeschütteten Hügeln, neben großen Brückenpfeilern und auf vibrierenden Fußgänger:innenübergängen. Diese Orte sind Zwischengebiete, unwirtliche Übergangszonen zwischen Fahrbahn und angrenzendem Wohngebiet oder Waldstück. Trotzdem ist Hier nicht „Nichts“. Auch wenn Autobahnen und die angrenzende Straßengrüngestaltungen Ergebnis langjähriger Planung, Bauphase und Instandhaltungsmaßnahmen sind, bildet sich hier ein eigenständiger Kosmos: Aus dem Auto Hinausgeworfenes, oder während der Fahrt Verlorenes, wilde Müllkippen, verunfallte Tiere, angepflanzte Bäume und Pflanzen, Pflanzen die trotz Feinstaub und hohem Schalldruck gedeihen, Pflanzen die sich offenbar gerade hier wohl zu fühlen scheinen und an die zuvor niemand gedacht hat, Grafittis, Überreste kleinerer Lagerstätten.
So materiell und visuell vielfältig die Land- und Wegschaft am Rande der Autobahn ist, so akustisch eintönig ist sie vom Sound des auf der Autobahn fliessenden Verkehrs dominiert. Dem Lärm kann man sich nicht entziehen, er ist maximal invasiv: Unsere Körper werden von den Schallwellen durchdrungen und reagieren. Der Blutdruck steigt, Stresshormone werden ausgeschüttet. Anstatt Lärmbarrieren aufzubauen, gehen wir so nah wie möglich an die Geräuschquelle heran. Vor Ort packen wir unser Sammelsurium aus Instrumenten aus und beginnen zu spielen. Es bildet sich ein Gemengelage aus vorgefundenen und selbstproduzierten Geräuschen und Klängen. Im Fluss, im Stau, in der Störung mit der Autobahn.
Umweltmediziner:innen sprechen von„Schall Appetenz“ um damit die selbstgefährdende Lust auf Schall zu bezeichnen. Die Lust, sich über ein für die Ohren wohltuendes Maß dem Schall auszusetzen. Im besten Fall entstehen dabei Euphorie und Ekstase. Zudem ist selbsttätiges Lärmen als ein uraltes Mittel der Angstabwehr bekannt. So gibt es etwa im Oberengadin den noch aus der Römerzeit stammenden Brauch des „Chaladamarz“, bei dem die Kinder und Jugendlichen mit Schellen und Glocken Krach machen, um böse Wintergeister in die schneeverhangenden Berge zurückzutreiben.
SONIC HIGHWAY Ortsbegehung & Performance
Konzept, Performance, Produktion, Kostüm: MFK Bochum
Set-Design: Lars Blum & Milo Juráni
Dokumentation: Conny Leonhard
Zu einem Text über SONIC HIGHWAY von der Autorin und Dramaturgin Judith Ayuso geht es hier.
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